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Charlotte war müde, obwohl sie gerade aufgewacht ist. Eigentlich sollte sie voller Energie sein, so wie früher. Doch das war sie schon lange nicht mehr. Sie drehte sich um zu Oliver, ihrem Mann, der noch seelenruhig neben ihr lag und schlief. Schnarchte, um genau zu sein. Oliver schnarchte furchtbar laut. Wie ein alter Mann, obwohl er erst 35 so wie sie war.

Eigentlich war heute joggen dran. Doch Charlotte konnte sich einfach nicht aufraffen. Dienstag und Donnerstag - joggen. Mittwoch Cardio, Freitag Krafttraining. Wer kam auf die absurde Idee, dass das ihrem Körper guttun könnte. Sie wollte abnehmen, sich etwas wohler fühlen, wobei das genau das Thema war: Fühlen. Beim Sport fühlte sie etwas, ansonsten eher weniger in ihrem Leben. Sie war wie Tod, nur dass er noch nicht eingetreten ist. Stand neben sich, immer mehr. Ihre Freunde bemerkten es, ihr Arbeitgeber auch. Und Oliver? Der nicht. Er war Meister darin, sich seine Welt schön zu machen, auch wenn sie es nicht mehr war. Zur Not auch mit Hilfe der einen oder anderen Flasche Rotwein, die er mit der Begründung vernichtete, sie liefere ihn die Kreativität für seine Romane.

Oliver ist Schriftsteller. Ein ziemlich guter sogar. Und doch weiß Charlotte genau, dass er nicht der smarte, gut aussehende Sunnyboy ist, für den ihn alle hielten. Oliver hatte seine Themen. Genau wie sie.

Charlotte schleppt sich ins Bad und zwingt sich ihre Laufschuhe anzuziehen. Wenn sie schon nicht joggte, will sie wenigstens eine Runde spazieren gehen. Sie streichelt ihre Katze Sarah kurz, die sie entgeistert ansieht und schleicht sich aus der Wohnung.

Draußen angekommen, erfasst sie ein eisiger Wind, ihre Augen beginnen sofort zu tränen. Tapfer läuft sie los und weiß gar nicht wohin. Am Ende der Straße beginnt ein Waldstück.

Sie spürt jeden Kieselstein unter der viel zu dünnen Sohle ihrer neuen Laufschuhe und verflucht sich und den Hersteller. Dennoch geht sie einen Schritt nach dem anderen. Wie im Leben. Ein Schritt nach dem anderen:

Erst ist man ein Kind im Kindergarten, dann ein Kind in der Schule. Aus bunt im Kindergarten wird grau in den höheren Stufen. Man lernt stillzusitzen und zu fragen, ob man Pipi machen darf. Selbst wann man Wasser trinkt, wird kontrolliert. Irgendwie schafft man es, gemeinsam mit 28 anderen eingesperrten, die Schulzeit hinter sich zu bringen. Dann macht man eine Lehre oder studiert, ergreift einen Job, der zu einem passt (ha ha) und findet den Partner fürs Leben. Man fährt zweimal im Jahr in Urlaub, baut ein verdammtes Haus und hat 2 Kinder, denen man denselben Blödsinn vorlebt. Man navigiert durch einen Alltag, den man eigentlich nicht überleben kann, schleppt sich von einem sinnlosen Meeting ins Nächste. Zwischendrin plagt man sich mit oberflächlichen Freundschaften, wobei doch jeder nur sein eigenes Leben lebt. Man schlägt sich mit Großeltern und deren Ratschlägen herum, wie dieses Leben angeblich funktioniert und dann irgendwann hat man es geschafft: Wenn der Körper schlapp, der Geist müde und der Tod nah ist, darf man in Rente. Jippie.

In diesem Moment hat Charlotte es so satt. Und anstatt zu spazieren, beginnt sie im Vollsprint loszulaufen. Sie hört sich selbst nicht schreien - erst als sie das Echo vom Ende des Waldstücks hört, erschrickt sie. »Ich habe geschrien. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. So geht es nicht weiter…«


Einige Zeit später

Oliver schnarcht noch immer. Charlotte wacht auf und erblickt den Ozean. Ihr Wohnmobil steht an einer wunderschönen Klippe an der südlichsten Spitze von Spanien. Während sich zu Hause die Blätter verfärben, nehmen Charlotte und Oliver ihr tägliches Bad im Meer.

Charlotte hat ein Sabbatical genommen. Oliver kann von überall aus schreiben. Trotzdem musste Charlotte Oliver überzeugen. Er ist ein Gewohnheitstier - eins der übleren Sorte. Jeden Sonntag gibt es die gleichen Brötchen, vom gleichen Bäcker mit demselben Belag. Manchmal wunderte sich Charlotte wie er überhaupt in der Lage war, Romane zu schreiben. Offensichtlich sparte er seine gesamte Kreativität und Lebensenergie für die Welten in seinen Büchern. Und fuhr seine eigene Welt auf Sparflamme. Jedenfalls waren sie jetzt hier. Seit Monaten unterwegs. Der Anfang war holprig: Sie waren es nicht gewohnt auf so engem Raum 24 Stunden am Tag zusammen zu sein. Sie mussten neue Routinen bilden, sich finden. Lernen, dass das Leben in einem Wohnmobil langsamer ist und einkaufen und Wäschewaschen zu einer Tagesaufgabe werden.

Und irgendwann war Charlotte dann glücklich. Ihr ging es gut. Raus aus dem Job-Hamsterrad als Führungskraft im Vertrieb tat ihr unendlich gut. Sie war weit weg von den belanglosen und oberflächlichen Freundschaften, die sie einfach so durch schleppte, weil man sich seit 20 verdammten Jahren kannte. Ihrer Beziehung tat es auch gut, wenn auch, wie beschrieben, am Anfang mit Hindernissen. Sie hatten Sex. Etwas, dass vorher seit Jahren nicht mehr vorkam. Und sie näherten sich auch sonst wieder einander an.

Eigentlich konnte Charlotte nun also glücklich sein. Wäre da nicht die Tatsache, dass ihre Reise in wenigen Wochen zu Ende sein würde. Sie und Oliver hatten darüber gesprochen, die Reise zu verlängern. Doch das Gewohnheitstier war lange genug weg von seinen Routinen und gewohnten Orten. Oliver wollte nach Hause. Er tat es, und das hatte er ihr von Anfang an gesagt, nur für sie. Nicht im Weg stehen wolle er ihren hehren Plänen - Schriftsteller bla bla.

Und jetzt? In 6 Wochen würde sie wieder im Meeting mit unmöglichen Kunden, schwierigen Mitarbeitern und einem Management sitzen, die noch nie wirklich mit einem Kunden gesprochen haben. Ihr aber trotzdem sagten, wie alles zu funktionieren hatte.

Dass sie dieser Umstand also nicht glücklich machen würde, wusste Charlotte. Aber das war es gar nicht. Was ihr Sorgen machte war, dass sie sich zwar in den letzten Monaten endlich wieder lebendiger fühlte und ihren offensichtlichen Burn- und Boreout überwand, war gut. Trotzdem war da etwas in ihr, was sie nicht greifen konnte. Sie war dennoch nicht vollständig glücklich. Und das frustrierte sie…


Oliver und sie fuhren noch ein Stück weiter. Charlotte wollte unbedingt noch nach Portugal bevor es zurückging, obwohl sie dort noch nie war. Irgendetwas in ihr zog sie dort hin. Also fuhren sie an der Küste Spaniens entlang bis nach Portugal.

An der Algarve angekommen, übernachteten sie auf einem Campingplatz. Sie mussten ihre Wasservorräte auffüllen, Abwasser ablassen und das Wichtigste: Duschen. Beim Leben im Wohnmobil duscht man eher selten, weil Wasser knapp ist und die Duschkabine einer Konservendose von Fischen gleicht.

Sie fuhren auf ihren Platz, Oliver trank seine übliche Flasche Wein alleine und schlief bald tief und fest ein. Charlotte wollten die Gedanken nicht aus dem Kopf verschwinden. Ihre baldige Rückkehr und die Frage, warum sie denn auch hier, wenn sie frei lebte, nicht vollends glücklich war, beschäftigten sie.

Klick - sie öffnet die Tür des Wohnmobils. Sie steht an der Tür und beobachtet die Sterne. Kühle Luft strömt zu ihr und dem schnarchenden Oliver hinein. Dann sieht sie das Meer und weiß, wo sie hin muss. Sie schnappt sich eine Decke, schlüpft in ihre Birkenstock-Schuhe und geht im Dunkeln, nur mit sich und ihren Gedanken, an den Strand.

Mit jedem Schritt erinnert sie sich ein wenig mehr daran, was sie an dieser Welt alles nicht mag. Der ständige Druck, das Funktionieren, die oberflächlichen Beziehungen, die Ungerechtigkeit, die Tatsache, dass Menschen verhungern, Kriege geführt werden. Plötzlich wird ihr alles zu viel. Sie denkt an ihr eigenes Leben und stellt fest: Es ist ein einziger Kampf. Jeden Tag. Eine Frage baut sich in ihr auf. Sie will sie zunächst nicht hören, weiß um den Schmerz, den diese Frage mit sich bringt. Doch sie kann sie auch nicht ignorieren. Also gibt sie sich hin und weiß in dem Moment als sie sie hört, es ist ihr Ende.

»Wann warst du eigentlich zuletzt so richtig glücklich?«

Sie hört die Frage und sinkt auf die Knie. Sie kniet im weichen Sand Portugals, hinter ihr ihr altes Leben. Ein Wohnmobil. Oliver. Ihr Job, die Beziehungen, die Verpflichtungen.

Wann warst du eigentlich das letzte Mal so richtig glücklich? Fragt sie sich wieder. Und sie hat keine Antwort.

Das ganze Leben erscheint ihr sinnlos. Sie fragt sich: »Wofür das Ganze?!«. Dann bemerkt sie, dass ihre Beine nass sind. Sie steht im Meer, schon fast bis zur Hüfte. Die Decke, die sie um die Schultern gebunden hat, wiegt eine Tonne. Sie lässt die Decke und ihr Leben los und geht tiefer ins Wasser. Das Meer ist eiskalt - in Portugal immer. Sie spürt die Kälte bis zum Hals, jetzt schwimmt sie. Sie krault so schnell sie kann, ohne aufzuhören. Auch nicht, als ihr Körper kapituliert. Krämpfe plagen sie in den Armen und Beinen, ihre Lunge sticht. Immer mehr Meerwasser schwappt ihr ins Gesicht. Sie schluckt es, verschluckt sich, gerät in Panik und zappelt wie wild im Meer. Ganz alleine, nur mit sich. Und dann ist… Stille.

Charlotte geht unter. Sie hat den Kampf verloren. Ihren Kampf mit diesem Leben. Sie hat aufgegeben, kapituliert. Und wer, ja wer soll es ihr verübeln? Die die weiterhin das Spiel spielen und sich innerlich jeden Tag töten, mögen über sie richten. Doch heimlich verstehen auch sie Charlotte. Innerlich ist jeder irgendwo wie sie.

Die Minuten vergehen, ihr Körper sinkt. Sie ist nicht mehr hier und doch ist sie es. Im Moment zwischen dieser und einer anderen Welt erwacht sie. Sie hört sich deutlich sagen: »Du selbst kannst dich glücklich machen - jeden Tag. Es mag aussichtslos erscheinen aber das ist es nicht«. Charlotte weiß genau, sie bildet sich das nicht ein. Sie weiß, sie hat diese Stimme gehört und es war ihre eigene. Sie erinnert sich nicht, was passiert ist. Weiß nicht, dass ihr Körper gerade im 15 Grad kalten Wasser untergegangen ist. Und sie hört diese Stimme. Jetzt hört sie sich sagen: »Aber wie soll das möglich sein? Was hat das alles für einen Sinn? Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Es ist sinnlos zu kämpfen. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie es ist, glücklich zu sein. Wie es sich anfühlt, wenn einfach alles passt«. Daraufhin die Stimme in ihr: »Ich weiß wie hart es ist, was du gerade erlebst. Denn ob du es glaubst oder nicht, ich erlebe all das mit dir. Ich stelle dir nun eine Frage, die deine Sicht auf dein Leben für immer verändern wird. Wenn du sie gehört hast, entscheidest du, was du tun willst. Du kannst Schluss machen. Niemand wird dich verurteilen. Auch du selbst nicht. Du wirst weiterhin existieren, in anderer Form. Oder du entscheidest dich weiterzuleben, hier auf der Erde - aber nur, wenn du ausreichend Gründe dazu findest. Was meinst du?«

Charlotte zögerte. Sie war fertig mit ihrem Leben. Ihr Entschluss stand jetzt fest. Und doch wollte sie die Frage zumindest hören. »Also gut…«, sagte sie und die Stimme, die aus ihr sprach, sagte: »Was, wenn du das alles selbst in dein Leben geschrieben hast, um dich zu erinnern? Was, wenn all das Leid, die Sinnlosigkeit, das Gefühl, das das alles nichts bringt, die Enttäuschungen, der Schmerz - was, wenn das alles einen Zweck hatte. Dich zu erinnern…?«

Charlottes Herz machte einen Satz, als sie dies hörte. Sie wollte nicht wahrhaben aber sie wusste augenblicklich, dass die Stimme in ihrem Kopf recht hatte. Es war, als spräche sie zu ihrer Seele, die ihr sagte: Du hast das alles selbst in dein Buch des Lebens geschrieben, um dich an etwas Größeres zu erinnern. Und doch konnte sie es nicht glauben. Auch, wenn sie wollte. Wie viel Wahnsinn konnte in einem selbst liegen, dass er sich selbst all das hätte antun können? Wer wäre fähig dazu, sich selbst so tief zu verletzen, nur um zu erkennen, dass es eine andere Wahrheit gibt? Sie sank in sich. In ihren Geist und es wurde still. Ihr Körper trieb reglos inmitten des Atlantiks und sie selbst war in sich gekehrt. Sie zog sich zusammen und atmete so tief ein, wie nie zuvor. Nicht körperlich, sondern geistig. Minutenlang geschah gar nichts. Charlotte spürte... Sie fühlte, dass diese Stimme, dass ihre Seele, Wahrheit sprach.

Doch: Wenn sie nicht einmal glücklich war, nachdem sie mit Oliver Monate lang durch Europa fuhr, frei wie ein Vogel, was in aller Welt sollte sie dann glücklich machen? Das war der Moment, in dem sich die Stimme wieder zu Wort meldete: »Du wirst niemals das Glück im Außen finden. Es war nie so gedacht, dass dich diese Welt glücklich macht. Zumindest nicht so, wie du meinst, es solle sein. Diese Welt kann dich so glücklich machen, dass du weinen möchtest wegen ihrer puren Schönheit und ihres Anmut. Doch vorher, ja vorher, musst du dich selbst wieder finden. Und zwar in deinem Inneren«.

Charlotte wusste damit nichts anzufangen. Wie sollte sie sich selbst wieder finden, innen?


Doch auf einmal machte es Klick. Sie verstand… »Was, wenn DU das alles eingebaut hast, um dich zu ERINNERN?« Was, wenn ich das alles eingebaut habe? Ich selbst. Was, wenn Charlotte mein Spiegel ist, mich selbst an mich zu erinnern? Und das ganze Leben das sie führt gleich mit? Was, wenn ich diese ganze Welt erschaffen habe, um mich an mich selbst zu erinnern?

Und dann lachte sie. Sie schrie vor Freude, Tränen schossen ihr in die Augen. Sie lachte so laut, dass die Fische um sie herum davon flogen. Ihr Körper zuckte. Sie öffnete ihre Augen. Nahm wahr, dass sie unter Wasser war. Mit letzter Kraft schlug sie die Beine zusammen und nahm ihre brennenden Arme zur Hilfe. Sie kam an die Wasseroberfläche und atmete. Sie hatte das Gefühl zum ersten Mal in ihrem Leben richtig zu atmen. Sie atmete das Leben ein. Sie erlebte gerade ihre zweite Geburt. Ihre zweite Chance. Und sie hatte all das selbst gewählt.

Etwas später

Charlotte stand am Türrahmen ihrer Tauchschule mit dem Namen Alana. Glücklich hielt sie eine Tasse rituellen Kakao in der Hand, beobachtete die aufgehende Sonne. Sie bot keine klassischen Tauchgänge an. Bei ihr konnte man Retreats buchen, in denen Menschen, die sich wie sie einst, nicht mehr spüren, in die Rückverbindung mit sich selbst bringt. Und sie nutzt dazu das, was ihr einst beinahe das Leben gekostet hat: das Meer.

Oliver und sie trennten sich. Er lebt weiterhin seine Routinen. Charlotte ist ihm deswegen nicht mehr böse. Sie hat verstanden, dass er eben anders ist als sie, obwohl sie ein und denselben Ursprung haben.

Auf Hawaii angekommen, kam sie in ihrem zweiten Leben an. Und wenn sie sich heute fragt, wann sie das letzte Mal so richtig glücklich war, lautet ihre Antwort: Ich verstehe die Frage nicht…


Diese Geschichte zu schreiben war...unglaublich. Sie hat mich selbst zu Tränen gerührt und ich hoffe, sie berührt euer Herz genauso.

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Danke.

Manuel

P.S.:
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