Jeden Tag fahre ich die gleiche Strecke. Aus meiner Einfahrt biege ich ab auf eine Straße, die zu einer größeren Straße wird. Vorbei am Bäcker, manchmal halte ich dort. Kaufe mir Dinge, von denen ich weiß, sie sind ungesund. Setze die Fahrt fort. Verlasse, meist mitten in der Nacht, meine Heimat. Eine Landstraße, ich beschleunige. Im Radio die selbe unerträgliche Morningshow. Aufgesetzte Fröhlichkeit, obwohl innerlich alle tot sind.
Mein Arbeitsplatz erscheint. Ein Provinzflughafen. Zumindest kommt er mir so vor. Ins Mitarbeiterparkhaus. Wagen parken, Tasche nehmen. Essen und Trinken nicht vergessen. Die Uniform spannt jedes Jahr etwas mehr. Ich treffe die Karls, Lukas, Murats, Heidis. Guten Morgen hallt es, man spürt, jeder ist noch wo ganz anders. Im Bett, in einem anderen Land, in einem anderen Leben. Angekommen im Umkleideraum, Schrank öffnen. Die selben hohlen Gespräche. Jeden Tag. Was Trump wieder gemacht hat. Flutkatastrophe hier, Krieg dort. Und: das Wetter. Wahlweise viel zu kalt, zu warm, zu viel Regen, zu wenig Regen. Immer „viel zu“ jedenfalls.
Ich lege meine persönlichen Sachen in meinen Schrank. Noch fünfzehn Minuten. Im Pausenraum sitze ich auf einem klebrigen Plastikstuhl, lege meine Bäckerstüte auf den klebrigen Tisch. Hole mir eine Tasse Kaffee. Irgendwer kocht immer Kaffee, keiner weiß, wer. Vielleicht Gott höchstpersönlich, um sich zu entschuldigen, dass er uns hier versauern lässt. Der Kaffee schmeckt furchtbar. Gott ist kein guter Barista. Ich würge ihn zusammen, mit dem nicht mehr frisch gebackenen, sondern frisch gelieferten Croissant herunter. Noch sieben Minuten. Ich lasse die Krümel am Tisch liegen. Schäme mich kurz dafür. Noch einmal zum Spind. Dienstwaffe holen. Ich könnte heute ja jemanden erschießen. Den Attentäter auf frischer Tat ertappen. Wahrscheinlicher ist eine stinkgewöhnliche, langweilige Schicht, in der ich unzähligen Menschen zu nahekommen werde. Weil ich sie abtasten muss, weil sie vergessen haben, ihre Gürtelschnalle abzulegen, oder ihre Birkenstocks lösen Alarm aus, aber nur, wenn es sich um Hippies handelt. Ich schlurfe schnellen Schrittes in die Security-Abteilung des Flughafens. Oh nein.
Der Chef ist da. Wunderbar. Hoffentlich macht er nur seinen üblichen Schicht-Check und erzählt irgendwas davon, wie wichtig wir für die Sicherheit der Stadt - ach was, der ganzen Welt – sind. Er ist ein hoffnungsloser Systemliebhaber, der dem Märchen anheimgefallen ist, wir täten einen sinnvollen Job. Er sieht mich, begrüßt mich. Ich bin auf die Minute zu Dienstbeginn da. Das übliche Morgn, manchmal kombiniert mit einem lustvollen Nicken. Ich gehe zum Schichtleiter. Frage, an welchem Band ich zuerst die nationale Sicherheit sicherstellen soll. Er grinst. Schickt mich zu Band Nummer drei. Dem Kinder- und Rollstuhlband. Wenigstens etwas. Den ganzen Tag gestresste Eltern beim Verreisen zusehen und erleben, wie ihre Kinder einfach keine Lust haben, alleine durch die böse Maschine zu laufen. Ich hätte als Kind auch keine Lust gehabt, durch den Körperscanner in die Arme einer wildfremden Frau zu laufen. Noch ist es ruhig. Zu ruhig. Kaum ein Mensch ist da. Ich drehe mich um, schaue aufs Rollfeld. Eine Maschine startet. Die 890 nach Mallorca.
Immer dasselbe Spiel: ein Jahr arbeiten, zwei Wochen Sonne. Und vorher müssen sie alle bei uns durch. Wir tasten ab, machen Sprengstoffchecks. Durchleuchten ihre Taschen. Finden die intimsten Dinge. Klar, in jedem Vibrator könnte schließlich eine Kalaschnikow stecken. Unsere Kunden stehen alle unter dem Generalverdacht des Terrorismus. Weiß nur keiner. Seit den Anschlägen damals in den USA wurden weltweit alle Gesetze geändert. Wir dürfen alles, solange es der Sicherheit dient. Die erste Ansage des Tages: Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt stehen. Was sie nicht sagt, ist: Wir halten sie sonst automatisch für einen Terroristen und sperren sie ein. Die ersten Urlauber kommen. Zum Glück. Noch einen Moment länger in meinen Gedanken und ich hätte wohl meine Dienstwaffe benutzt.
Eine Familie. Zwei Kinder. Die armen Eltern. Bepackt wie Kamele in der Wüste, die Kinder quengeln. Viel zu früh für sie. Flugzeuge fliegen nun mal zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die warten nicht auf uns, höre ich den Vater erklären. Armer Vater. Arme Mutter. Arme Kinder. Sie brauchen eine Ewigkeit, um alles in die Boxen zu legen, damit wir unseren Terrorismusverdacht ausmerzen und ihr persönliches Hab und Gut durchleuchten können. Dann endlich sind sie fertig. Und es geht los: Kind eins weigert sich, durch den Scanner zu laufen. Ich kann es ihm nicht verübeln. Rede mit Engelszungen ein. Erinnere mich sogar, dass ich auch mal so klein war. Es hilft nichts. Ich sage den Eltern, sie sollen die Kinder auf die Arme nehmen. Mein Chef beäugt mich. Das darf man nur, wenn wirklich gar nichts mehr geht. Er sieht mich an, als würde ich Gratisgeschenke an die Familie verteilen. Ich taste händisch ab. Finde einen hochgefährlichen Gürtel und einen Autoschlüssel.
Das Schlimmste an meinem Job ist es nicht, den ganzen Tag Urlaubern beim Urlaubmachen zuzusehen, wie immer alle meinen. Das Schlimmste ist der Stress und die schlechte Laune, die sich in diesem Terminal ansammelt und sich auf mich legt wie ein Kaschmirschal, der mich langsam aber sicher erwürgt.
Was mache ich hier nur mit meinem Leben?
Es kommen noch einige Familien und Rollstuhlfahrer. Immer dasselbe.
Dann ist Frühstückspause. Ich brauche dringend Luft. Stürme auf die Dachterrasse des Flughafens. Blicke auf die Startbahn. Schaue den Fliegern beim Starten und Landen zu. Jeder tut immer denselben Job. Wir tasten Leute ab, die Stewardessen belehren Leute und verkaufen ihnen Essen. Die Piloten bedienen die Knöpfe. Tagein, tagaus.
Wie können wir nur immer dasselbe tun?
Jeden Tag unseres Lebens?
Was ist der Sinn dahinter?
Ich meine: Neben Rechnungen zu bezahlen.
Stelle ich solche Fragen, werde ich angesehen wie ein Alien. Jeder fühlt es, keiner spricht es aus. Es ist Tabu.
Ich muss zurück. Zurück an mein Band. An meinen rechtmäßigen Platz, den, sollte ich mal nicht mehr da sein, irgendjemand anders übernimmt. Wir sind alles nur Marionetten in einem Spiel. Und ich spüre es.
Ich weiß, es ist dumm. So dumm. Aber ich kann nicht anders. Manche Fehler muss man im Leben machen, auch wenn man vorher genau weiß, es ist komplett falsch. Mexiko. Heute. Am Last-Minute-Schalter ist nichts los. Ich buche einen Flug für heute Nachmittag. Acht Tage. Das Geld dafür habe ich nicht. Aber meine Kreditkarte leiht es mir.
Ich buche. Die Aufregung steigt mir ins Gesicht. Ich müsste längst wieder an meinem Band sein. Werde so tun, als ginge es mir nicht gut und ich säße auf der Schüssel. Die Buchung klappt. Eine Flugnummer, ein Ticket. Eine glückliche System-Ameise im Last-Minute-Schalter. Er hat Umsatz gemacht, ich eine Dummheit. Die Schicht zieht sich wie Kaugummi. Ihre Fänge wollen einfach nicht von mir ablassen. Wer immer Zeit erfunden hat, war ein Masochist. Die Geräusche bringen mich irgendwann um. Es ist der Stress der Menschen, wenn sie uns sehen, und es sind die Geräusche, die sie dabei von sich geben.
Wie kann Leben so laut sein?
Durchsagen. Schreiende Kinder. Zwischendrin ein Funkgerät. Die Stimmen der Beinahe-Passagiere sind mit Abstand am lautesten. Niemand kann einfach in der Schlange warten. Sie sind nervös und müssen plappern. Die ganze Zeit. Zuhause spreche ich dann meist kein Wort. Was mich komisch macht. Ich genieße einfach die Ruhe. Fahre ohne Autoradio nach Hause. Ich werde heute nur sechsmal blöd angemacht. Rekord. Wir sind permanent dem Frust der Beinahe-Passagiere ausgesetzt. Und ich verstehe sie. Wir behandeln sie wie Vieh. Vieh, unter Terrorismusverdacht. Die Ironie ist, dass ich mich nachher selbst wie ein Vieh einreihen muss, um in mein Flugzeug nach Mexiko zu steigen. Die Schicht endet. Ich habe keine Zeit, nach Hause zu fahren. Kaufe am Flughafen überteuerte Kleidung. Mein Auto bleibt im Mitarbeiterparkhaus. Wenigstens das ist günstig. Mein Chef gibt mir so kurzfristig keinen Urlaub.
Ich fliege trotzdem.
Die Kollegen fassen es nicht. Aber ich habe einen freien Willen, und während sie mich kontrollieren - oder durchwinken, denn einer von uns ist sicher kein Terrorist – wünschen sie mir alles Gute. Das wünsche ich mir auch. Es war der größte Fehler meines Lebens. Und ich hab ihn ganz bewusst begangen. So wie sich das Gate mit Menschen füllt, füllt sich mein Gehirn mit Ängsten. Was wird jetzt sein, ohne Job? Wie erkläre ich meiner Familie, wo ich bin? Finde ich je wieder einen Job? Schließlich verlassen sich meine Rechnungen auf mich.
Boarding.
Kein Zurück.
Ich sehe noch meinen Chef mit dem Kopf schütteln. So etwas ist ihm in 32 Jahren noch nicht passiert, wird er abends seiner Frau Hilde erzählen. Für einige Tage werde ich zur Flughafenberühmtheit. Die Frau, die einfach in einen Flieger stieg.
Ich habe nun zwölf Stunden Zeit, all diese Gedanken zu ignorieren. Obwohl ich gerade die mit Abstand größte Dummheit meines Lebens begangen habe, werde ich das dämliche Grinsen in meinem Gesicht nicht los.
Mexiko. Ich weiß überhaupt nichts über dieses Land. Nur, dass es sehr heiß ist. Ich gehe durch die Prozedur, zeige meinen Reisepass, den ich zum Glück immer dabei habe. Was sie nicht erkennen, ist, dass ich sie erkenne. In ihren Gesichtern steht dasselbe wie in meinem. Ich erhalte den Stempel und stehe in einer großen Halle. Gepäck hatte ich keins, also suche ich den Ausgang. Eine gewaltige Wärmewand reißt mich beinahe nieder, als ich die Drehtür verlasse. Mexiko ist nicht gerade leiser als meine Abflughalle zuhause. Aber diese Geräusche machen mir gerade nichts aus. Es sind die Geräusche von Leben. Lebendigkeit.
Ein Bus voller halbtoter, erschöpfter Menschen mit mir. Die Fahrt nach Tulum. Klimatisiert. Die Landschaft zieht an mir vorbei. Mein Handy lass ich lieber aus. Am Flughafen habe ich mir vorsichtshalber gar keine SIM-Karte gekauft. Wir halten an diversen Hotels. Pauschalurlaub. Für 1.800 €. Ich habe keine Ahnung, wie mein Hotel heißt, gucke ständig auf das ausgedruckte und mittlerweile nassgeschwitzte Ticket in meiner Hand.
Dann erreichen wir meins. Mit mir steigt ein älteres Ehepaar aus. Er schwitzt und redet, sie schweigt. Mein Hotelzimmer ist ein Traum. Ich blicke auf Palmen. Das Meer. Den Hotelpool mit dem Geschrei der Kinder kriege ich nicht mit. Sonne. Wann hatte ich zuletzt Sonne auf der Haut und nicht die Sonnencreme der Touristen in der Hand, die ich kontrollierte? Ich laufe ans Meer. Meine Füße berühren weißen Sand. Mein Herz will laut rufen: Ich bin frei.
Anstatt meines Herzens ruft mein Mund. Blicke. Sie kümmern mich nicht. Ich liege am Strand und verbrenne in der Sonne. Es ist mir gleichgültig. Abends Essen im Hotel. Ein Glas Wein. Mediterranes Essen und Männer. Einer traut sich. Setzt sich zu mir an den Tisch. Wir kommen ins Gespräch, danach kommen wir ineinander. Ich genieße es. Wir sind auf meinem Zimmer. Die Kleidung liegt vor dem Bett. Ich weiß noch nicht mal seinen Namen. Kann ihn mir nicht merken.
Ich bin frei.
Am nächsten Morgen keine Spur von ihm. Er fehlt mir nicht. Ich dusche, gehe ans Meer. Liege wieder den ganzen Tag da. Heute habe ich mir aus dem Hotelshop eine Sonnencreme besorgt. Für 27 €. Ich bin ja jetzt arbeitslos, da kann ich mir das leisten. Ich liege und tue gar nichts. Nur mein Kopf tut etwas. Die ganze Zeit. Er erzählt mir von Schuldgefühlen und dass ich doch jetzt gefälligst welche haben soll. Meiner Familie gegenüber. Meinem Arbeitgeber. Der Weltsicherheit, weil ich nicht mehr an Band drei die Familien und Rollstuhl-Terroristen aus dem Verkehr ziehe. Aber da ist nichts. Keine Schuldgefühle. Gar nichts. Ich bin einfach nur am Strand. Halbnackt. Liege in der Sonne. Ich will kein Buch lesen, keine Ausflüge machen. Mich interessiert keine Kulinarik - ich will nur ans Meer. Streng genommen hätte ich dafür nicht nach Mexiko fliegen müssen. Ägypten hätte es auch getan. Aber wenn ich schon die größte Dummheit meines Lebens begehe, dann richtig.
Wer weiß, was bleibt, wenn ich wiederkomme? Mein Job sicher nicht. Die Beziehung zu diesem Fremden, den ich einst liebte und der sich mein Mann nennt? Im besten Fall auch nicht. Menschen, die behaupten, meine Freunde zu sein, obwohl sie nichts von meinem echten Ich kennen, werden mich verantwortungslos nennen. Ich lebe auf einem Dorf. Da spricht sich sowas rum. Wenn ich zurückkomme, bin ich erledigt. Da fällt mir ein entscheidendes Wort auf, in meinem Gedankensalat. Das Wort „wenn“.
Die Tage vergehen. Mein Entschluss wächst schneller als mein Hunger nach exotischen Früchten. Ich werde hierbleiben. Mexiko – du bist mein Zuhause ab sofort. Wer wäre auch so bescheuert und würde zurück in das Leben gehen, aus dem ich komme? Die Leute meinen immer, man müsse sein Leben aufräumen. Sich allen erklären. Die Wahrheit ist: Gar nichts muss ich. Die Leute interessieren sich sowieso nur für sich selbst. Bin ich eben das Dorfgespräch. Ich werde meinen Mann informieren. Irgendwohin muss er ja die Scheidungspapiere schicken. Und mein Handy nur einmal die Woche anschalten, um mir die Drohgebärden und das Gejammer von allen, allen voran das meiner Eltern, anzuhören. Ich suche mir einen Job - vielleicht sogar am Flughafen. Qualifiziert bin ich. Oder im Hotel. Egal. Hauptsache in Mexiko. Am Strand. In der Leichtigkeit. Nie wieder werde ich in diesem Dorf fristen und mein Leben damit verbringen, es anderen recht zu machen.
Drei Tage später bin ich zur Vernunft gekommen. Ich sitze im Bus zurück zum Flughafen. Habe Geschenke für alle gekauft, allen voran für meinen Mann. Ich werde zu Kreuze kriechen. Die Entschuldigungen habe ich vorbereitet und auswendig gelernt. Wie leid es mir tut, wie egoistisch ich doch war. Dass ich nicht weiß, was in mich gefahren ist. Ich werde es nie wieder tun, ich schwör’s. Mit meinem Arbeitgeber fange ich an. Gleich nach der Landung.
Der Bus fährt und mit ihm mein leichtes Leben. Am meisten Sehnsucht haben meine Rechnungen nach mir. Ich werde bald wieder für euch da sein. Flughafen. Irgendwie seltsam: Arbeitet man an einem, fühlen sich alle wie zuhause an. Ich kenne die Abläufe. Würde nicht gerne mit meinen mexikanischen Kollegen tauschen. All die Drogen. Es muss anstrengend sein, dauernd schwer bewaffnet zu sein und mit jedem einzelnen Passagier einen Drogen-Schnell-Check zu absolvieren. Ich bin an der Reihe. Lege so schnell ich kann mein spärliches Hab und Gut in die Plastikschale. Ich will meine Kollegen, die keine Ahnung haben, wer ich bin, nicht enttäuschen. Ich werde sie nicht warten lassen. Das tun die Oma vor mir und ihr Mann, die ich bereits im Bus bei meiner Ankunft kennengelernt hatte, bereits. Es muss furchtbar anstrengend sein, sich so zu sputen, wenn man so alt ist, wie sie. Das wird der Grund sein, weshalb ältere Menschen nicht mehr reisen. Sie wollen sich dem wahnsinnigen Tempo, in dem die Welt funktioniert, nicht mehr aussetzen. Recht haben sie. Ich helfe ihnen bei ihrem Gepäck, sie danken es mir mit einem verschobenen Lächeln. Ich bin an der Reihe. Das Gerät piepst. Eine schwitzende Kollegin tastet mich ab. Standardprocedere. Ich fühle mich ein bisschen wie im Undercover-Einsatz.
Dann sitze ich im Gate. Blicke aus dem Fenster. Wie konnte ich so blöd sein. Hätte ich vor acht Tagen meine Emotionen im Griff gehabt, hätte ich mir das Schlimmste erspart, was je in meinem Leben auf mich wartete: das Zurückkommen. Wenn man ein Leben fristet, was einen unglücklich macht, ist doch das Schlimmste, was man machen kann, herauszufinden, dass es anders möglich wäre, und dann zurückzukehren, oder?
Was bin ich für eine blöde Kuh.
Boarding in 15 Minuten.
Die Alten setzen sich neben mich. Wir kommen ins Gespräch. Warum auch immer, erzähle ich ihnen meine Dummheit. Dass ich fast mein Leben weggeworfen hätte für acht Tage in Mexiko. Die beiden schauen sich an. Es ist ein bedeutungsvoller Blick. Sollen wir oder sollen wir nicht? Ach, was soll's. Mädchen - du musst hierbleiben, sagt der Alte. Und seine Frau erwidert: Was hast du zu verlieren? Du bist jung und hübsch? In Deutschland erwartet dich der selbe langsame Tod, auf den wir warten. Wir haben unser ganzes Leben lang auf den Moment gewartet, in dem wir frei werden. Und jetzt? Sieh uns an. Wir wissen alle drei, dass dies unsere letzte Fernreise war.
Ihre Worte zerschneiden mein Herz. Die beiden tun mir leid. Und dann geschieht etwas, das alles verändern sollte. Ich sehe mich in ihr. In ihrer altbackenen Bluse sitze ich hier am Flughafen. Ich spüre alle Knochen und Organe, von denen ich nicht mal wusste, dass ich sie besitze. Ihr Herz ist schwer, sie trauert der verpassten Chance nach, ihr Leben wirklich zu leben. Aufzuwachen aus dem Dauertiefschlaf, in dem gefühlt alle stecken. Ihre Worte mir gegenüber sind aufrichtig. Die beiden ermutigen mich, hierzubleiben. Mein Leben in die Hand zu nehmen. Dorf Deutschland gegen Meeres-Mexiko zu tauschen. Aber das darf ich einfach nicht.
Noch acht Minuten bis zum Boarding.
Die beiden reden auf mich ein. Liefern mir Argumente. Sie sind in einem Wettstreit, der eine will den anderen überbieten. Es fällt sogar das Wort Scheiße in Bezug auf Deutschland und dass es schade sei, was aus dem Land geworden ist. Wären sie nochmal jung, würden sie den Flughafen verlassen und nochmal neu anfangen. Sie stehen auf. Langsam bildet sich eine Schlange, um ins Flugzeug zu steigen. Mit mir. Ich kann es einfach nicht. So frei ich mich auch fühlte, diese verdammten Gewissensbisse haben es doch geschafft, mich weichzuklopfen. Die beiden schütteln den Kopf, drehen sich weg und nehmen ihr Handgepäck. Wie es wohl sein muss, zu wissen: Das war meine letzte Fernreise. Verdammt, ich bin doch noch so jung. Okay, so jung jetzt auch wieder nicht. Aber viel jünger als die beiden. Ich sitze in meinem Sitz, habe mich vorschriftsmäßig deutsch bereits angeschnallt. Das Flugzeug füllt sich. Der Platz neben mir ist noch frei. Ich war weise genug, den Gangplatz zu wählen. Gleich wird die Stewardess „Boarding completed“ sagen. Und ich fliege in einem Stahlsarg zurück in mein altes Leben.
Ich kann das nicht. Reiße mir den Gurt vom Leib, als wäre ich James Bond und müsste die Welt im nächsten Moment retten. Dabei bin es ich selbst, die ich retten muss. Ich schnappe mir meine kleine Tasche und renne aus dem Flugzeug. Die Fluggäste, jedenfalls die, die keine hypnotisierten Smartphone-Zombies sind, schauen mich entgeistert an. Ob die Security gepennt hat und ich eine Terroristin bin? Noch nicht. Und wenn ich nicht zurück in mein altes Leben muss, stehen die Chancen gut, dass ich nie zu einer werde.
Eduard und Maria, so nenne ich sie, weil ich mir ihre Namen einfach nicht merken kann, jedenfalls das alte Ehepaar, klatscht Beifall. Sie rufen mir etwas hinterher, aber das kann ich in meinem neuen Leben bereits nicht mehr hören.
FIN
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