Der Sand peitschte der Kolonne ins Gesicht. Die Wüste war das Zuhause von Samir und seiner Familie. Und heute zeigte es sich von seiner gnadenlosesten Seite. Ein Sandsturm. Die Tücher vors Gesicht gebunden, die Zügel der Kamele streng in Händen, bahnten sie sich den Weg durch die Wände aus Sand, die sich vor ihnen auftaten.

Samir kannte es nicht anders. Mittlerweile war er alt genug, um die Verantwortung für ein eigenes Kamel zu bekommen. Seine treue Begleiterin, Anaya. Die Kolonne bestand aus insgesamt sechs Familien. Sie lebten wie ihre Vorfahren vom Handel mit Gewürzen und zogen dafür ihr Leben lang von einem Ort zum anderen. Als Nomaden. Samir und die anderen Jungspunde wurden behutsam an ihre baldige Führungsrolle herangeführt. Sie kannten kein anderes Leben als das in der Wüste.

Samir schrieb:

Das Licht in jener Wüstennacht - ein Zauber, ein Konzert, eine Offenbarung.

Wie klein kann ich sein?

Niemand versteht mich.

Niemand sieht mich.

Niemand hat Respekt vor mir.

Für sie bin ich ein Sonderling.

Der, der schreiben kann.

Beim Jagen will ich das Tier nicht töten.

Ich erkenne seine Seele.

Sie nennen mich Feigling. Doch in Wahrheit sind sie es, die feige sind.

Denn sie weigern sich, das Offensichtliche zu erkennen: Wir alle sind eins.

Ein Ganzes, unterteilt in Unzähliges.

Ich werde nie ein Tier töten können.

Ich muss fort.

Samirs Gedanken über die letzte Zeit erzählen die Geschichte eines sensiblen Menschen, der der Härte seines Nomadenlebens - nicht aber der Ausgrenzung durch die anderen - trotzen konnte. Die Sterne stehen günstig in jener Nacht, als Samir beschließt, zu gehen. Sie werden ihn suchen. Und wenn sie ihn nicht finden, werden sie ihn Verräter nennen. Er wird nie wieder zu ihrem Stamm gehören. Selbst seine Eltern werden ihn verleugnen. Er wird alles verlieren.

Und doch gibt es kein Zurück. Samirs Entschluss steht.

Unter dem Sternenhimmel der Wüste nimmt er die Tasche mit all seinem Hab und Gut, die er vorbereitet hat. Darin befinden sich Wasser und Vorräte für eine gewisse Zeit, etwas Kleidung und sein ganzer Stolz: sein Schreibblock.

Müde bin ich vom ständigen Versteckspiel.

Immer muss ich beweisen, dass ich einer von ihnen bin.

Doch ich bin keiner von ihnen, werde es nie sein.

Ich weiß, dass ich anders bin.

Ihre Spiele - barbarisch.

Ihre Unterredungen - lächerlich.

Ihre Sichtweise - veraltet.

Sie grenzen mich aus. Beschäftigen sich nur mit mir, weil sie sonst den Blicken ihrer Väter ausgesetzt sind.

Zusammenhalt ist der Schutz, den wir im unwirtlichen Leben der Wüste haben.

Also tun wir alle so, als wären wir Freunde.

Doch wir sind es nicht.

Anaya, sein Kamel, wird ihn durch die Wüste begleiten. Sie und er sind verbunden. Er liest ihre Seele und sie seine. Samir ist gerade dabei aufzusteigen, da zerrt ein kleiner Mensch an seinem Gewand.

»Samir«, flüstert seine kleine Schwester. »Wo willst du hin?«. Samir hatte gebetet - zu allen Göttern - möge Anula einfach tief schlafen, wie die anderen. Doch nun stand sie da - spürte, dass etwas nicht stimmte. »Anula, geh wieder schlafen. Es ist alles in Ordnung. Ich werde für eine Zeit fortgehen müssen. Wir werden uns wiedersehen, wenn viele Monde von den Sonnen des nächsten Tages abgelöst wurden«.

Anula wollte etwas erwidern. Sie war wie er, das spürte er. Schon jetzt war sie viel klüger als alle anderen Mädchen. Und den Dienst, den die Frauen der Kolonne taten, tat sie schon jetzt geschickter als die meisten von ihnen. Sie aß das Tier nur mit großem Widerwillen - garantiert sprachen die Seelen der Tiere auch zu ihr. »Samir, bitte lass mich nicht allein«.

Tränen verwässerten ihren Blick. Sie sah ihren großen Bruder, ihren Beschützer, den einzigen, den sie aufrichtig liebte, aus ihrem Leben reiten. Und obwohl sie ihn gerade flehentlich bat, nicht zu gehen, wusste sie, er müsse es tun. Genau wie sie, wenn sie alt genug war und ihren Vater überzeugen würde, ihr ein eigenes Kamel zu geben. »Glaube mir, dieser Gang fällt mir nicht leicht, Anula. Aber er ist ohne Alternative. Ich wünschte, die Dinge lägen anders, aber in dieser Kolonne sterbe ich. Nicht mein Körper, aber ich selbst«.

Samir sah durch das Wasser seiner Tränen seine Schwester, die er über alles liebte und im Stich lassen würde. Es zerriss ihn innerlich auf eine Weise, die schwerlich in Worten ein Zuhause finden kann. Er fühlte ihren Schmerz, spürte die Hilflosigkeit. Aber auch ihre Tapferkeit, ihren Mut. Ihn gehen zu lassen. Nicht Vater zu alarmieren. Am liebsten hätte er sie mitgenommen. Aber es glich ihrem sicheren Tod, es wäre so egoistisch gewesen. Er hatte Verantwortung für sie und in der Kolonne war ihr Überleben gesichert. Sie würde ihren Weg gehen, das spürte er. Und wenn die Götter der Wüste gnädig wären, so würde er sie wiedersehen.

Samir stieg auf Anaya, sein Kamel. Er blickte Anula noch einmal tief in die Augen. Er musste los. Ihre Unterredung könnte andere der Kolonne wecken. »Samir warte, bitte lass mich dir wenigstens etwas mitgeben, damit du mich nicht vergisst«.

Anula rannte zu ihrem Zelt. Vorsichtig schlich sie hinein, um ihren teuersten Besitz zu holen. Mit ihrem rubinroten Stein in der Hand, rannte sie zurück zu Samir. »Er soll dir Glück bringen, und wenn du einmal nicht weiterweißt, so kannst du ihn verkaufen«, sagte sie. Samirs Herz drohte zu zerreißen. Er liebte Anula wie keinen anderen Menschen. Sie beide gehörten zusammen. Und doch musste er sie jetzt verlassen. Er nahm den Stein und gab ihr im Austausch dafür eines seiner Tücher. »Hier - wann immer der Schmerz zu groß wird, kannst du dich in das Tuch fallen lassen. Es wird dir Schutz geben«. Das Tuch roch nach Samir und Anula legte es sofort an ihre Wange. Tränen rannen ihr nun durchs Gesicht, als sie ihren Bruder auf seinem Kamel davonreiten sah.

Würde sie ihn je wiedersehen?


Die Nacht war eiskalt in der Wüste. Samir fror am ganzen Leib. Der Abschied von Anula zerriss ihn in Millionen Teile. Der Sternenhimmel klar, das Auf und Ab auf Anayas Rücken beruhigte ihn etwas. Sein erstes Ziel war Janudah - eine Stadt vielleicht zwölf Tagesmärsche entfernt. Dort würde er Arbeit suchen. Es war eine Hafenstadt und Samir hasste sie. Die grobschlächtigen, ungehobelten Menschen dort widerten ihn an. Ausgerechnet sie waren es nun, die sein Überleben sichern mussten.

Janudah - die Stadt ohne Seele

Samirs Leben hing am seidenen Faden. Seine Vorräte längst aufgebraucht. Sein Geist im Dämmerschlaf und dem Tode näher als dem Leben. Anaya, sein Kamel, spürte, dass es vor allem von ihr abhing, ob Samir überleben würde. Aus zwölf Tagesmärschen wurden 18. Der Wüstensturm nahm jeden Tag zu. Er fand die Oase nicht, die so wichtig für ihn und Anaya gewesen wäre, und musste so alles auf eine Karte setzen: Würde er Janudah früh genug erreichen oder vorher sterben?

Mit letzter Kraft steuerte er Anaya über die Stadtgrenze, passierte das Tor zur Stadt und war in der seelenlosen Metropole Janudah angekommen. Die Stadt war von enormem Ausmaß. Alles erstreckte sich um einen runden Gürtel - das Zentrum. Händler aus dem ganzen Land kamen hierher, um Gewürze, Schmuck, Tee und andere Kostbarkeiten einzukaufen. Die tapferen Seeleute nutzten die Stadt, um wieder zu Kräften zu kommen und sich zu amüsieren.

Samir kannte sich im Getümmel der Stadt aus, denn auch seine Familie kaufte hier regelmäßig Gewürze. »Samir?«, verlautete ein Ruf aus der Ferne. Im Dämmerzustand konnte er nicht ausmachen, wer es war, der seinen Namen rief, und aus welcher Richtung der Ruf kam. »Samir!«. Jemand berührte sein Bein. Es war Osman, ein kleingewachsener Mann, den Samir kannte, seit er ein Kind war.

Zwei Tage später

Osman hatte Samir zu sich und seiner Familie nach Hause genommen. Er gab ihm zu trinken und zu essen, und nachdem Samir zwei ganze Tage und Nächte durchgeschlafen hatte, war er wieder zu Kräften gekommen. Nun folgte der schwierigste Teil, denn Osman war ein Freund der Familie und Samir musste ihm sagen, dass er selbige verlassen hat.

»Sag mir, dass das, was mir die Falken der Wüste sagen, nicht wahr ist, Samir«. Osman war ein Mann der Falken. Er wusste immer, was vor sich geht in der Wüste. Und so wusste er bereits Samirs Wahrheit, obwohl er zu niemandem ein Sterbenswort sprach. »Osman… ich«, stotterte Samir. »Es ist also wahr: Du hast deine Familie verlassen«. Osman nahm einen langen Schluck von seinem roten Tee. Er war mittlerweile reif genug, um den Situationen des Lebens keine Aufregung mehr zu schenken. Die Momente verrannen, Samir sah durch das kleine, runde Fenster des Lehmhauses, in dem er sich befand. Der Trubel Janudahs erfasste sein Herz. Es machte ihn schwer. Das und die bevorstehende Reaktion Osmans…

»Junge, ein Mann muss immer seinem Herzen folgen. Offenbar hattest du gute Gründe, deine Familie zu verlassen«, sprach Osman. Er erhob sich, um den Raum zu verlassen. Dabei drehte er sich noch einmal zu Samir um: »Du bist in meinem Haus immer willkommen, Samir. Sieh zu, dass du tust, was du zu tun gedenkst. Bedenke, dass diese Stadt ein Moloch voller Gefahren ist. Jeder denkt nur an sich. Janudah ist der Spiegel einer grausamen Welt. Lege dich nicht mit den Mächtigen an. Bestehe nicht auf dein Recht - es könnte dich dein Leben kosten.«

Osman drehte sich um und ging.

Einen weiteren Tag später machte sich Samir auf, um fortzugehen. Er hatte vor, auf dem Markt einige Händler anzusprechen und sich Arbeit zu beschaffen. Seine Vorräte waren leer, sein Herz schmerzte. Immerzu musste er an Anula denken. Doch sein Fortgang war richtig. Dort, in der Kolonne, hätte er niemals sein Glück gefunden.

Er schrieb auf:

Einer wie ich wird niemals Teil der Gruppe sein.

Ich bin nicht gewalttätig genug.

Nicht grobschlächtig genug.

Nicht gewieft genug.

Was stelle ich bloß mit meinem Leben an?

Nun bin ich frei von der Familie, frei von der Kolonne.

Doch was wird aus einem wie mir?

Bin ich mir sicher, in Janudah richtig zu sein?

Ganz gewiss nicht. Doch ich muss etwas Geld verdienen, um von hier fortzukommen.

Osman rettete mir das Leben. Nun schulde ich ihm etwas.

Ich werde tun, was ich muss, und dann sehen, wo mich mein Herz hintreibt.

Samir besaß ein außergewöhnliches Talent. Etwas, das zu jener Zeit nicht selbstverständlich war: das Schreiben. Er konnte schreiben, im Vergleich zu den meisten anderen, die dies nicht konnten. Samir hatte es sich selbst beigebracht. Auf den Reisen der Kolonne, wann immer er an etwas Besitz kam, tauschte er ihn sofort in Schriftrollen. Irgendwann verstand er wie aus Zauberhand die kryptischen Buchstaben. Setzte sie zusammen, verlieh ihnen seinen eigenen Zauber.

Ob ihm das Schreiben etwas bringen würde? Er stammte aus keiner Beamtenfamilie und wollte auch dem Königshaus nicht dienen. Doch was würde ihm seine außergewöhnliche Fähigkeit sonst einbringen? Er wusste es nicht. Nun war es an der Zeit, das Haus Osmans zu verlassen. Sein Kamel Anaya wartete bereits auf ihn. Es wurde ebenso versorgt wie Samir. Samir stand in der Diele des kleinen Hauses, blickte in die Gesichter Osmans und seiner Familie. Sie waren für ihn wie seine eigene Familie. Alle wussten es, er sah es in ihren Blicken. Niemand urteilte über ihn, das tat er selbst bereits - was sie in seinen Augen sahen.

Osman stand auf, nahm ihn in den Arm. Flüsterte ihm ins Ohr: »Pass auf, auf all deinen Wegen. Wenn du in Schwierigkeiten gerätst, wird ein Falke am Himmel sein. Er wird dich leiten. Du besitzt einen Schatz. Dein Herz ist voller Reichtum. Folge ihm, denn es wird dich leiten«. Asmira, Osmans Frau, erhob sich nun ebenfalls. Wasser stand in ihren Augen. Sie sorgte sich um Samir, er saß schließlich auf ihrem Schoß, wann immer seine Familie in Janudah war. Solange kannte sie ihn. Asmira hob einen Beutel auf und zwei Gefäße voll Wasser. »Nein. Asmira… das kann ich nicht annehmen. Ich schulde euch ohnehin schon so viel. Ihr habt mich gepflegt, mir das Leben gerettet. Ich stehe in eurer Schuld«, sagte Samir.

»Wenn ich so etwas noch einmal aus deinem Mund höre, musst du dir um die Mächtigen in Janudah keine Sorgen mehr machen. Denn dann hast du Ärger mit mir«, sprach Osman. Tränen schossen in Samirs Augen. Er nahm den Beutel und die Gefäße. »Du schuldest uns gar nichts. Nur deine Gesundheit und dein Überleben. Pass auf dich auf und denke an die Falken«. Das waren Osmans letzte Worte, ehe Samir sich auf Anaya, sein Kamel saß. Bereit, ins Ungewisse zu reiten, in Janudah, der Stadt der Tausend Gesichter.

Einige Zeit später

Samir arbeitete ausgerechnet für einen Fischhändler. Obwohl er den Tod der vielen Lebewesen nur schmerzlich ertragen konnte - genauso wenig wie deren verwesenden Geruch - musste er Geld beschaffen. Er dokumentierte den täglichen Fischeingang und -ausgang. Da er schreiben, aber nicht anpacken konnte, gab ihm der Fischhändler eine zweite Chance, und Samir erledigte seine Aufgabe gut. Er führte ein System ein, auf das der Händler niemals von sich aus gekommen wäre.

Eines Morgens machte er sich gerade aus seiner spärlichen Behausung auf zum Hafen. Eine neue Ladung Fische sollte in Augenschein genommen und dokumentiert werden. Da sah Samir sie: zwei seiner Brüder, Jakub und Esmeral. Sie schlenderten am Hafenbecken entlang, feixten und schlugen sich. Sie verhielten sich wie immer. Samir wusste: Wenn sie hier waren, war es auch seine Familie. Würden sie ihn finden, hätte er keine Wahl außer sich ihnen wieder anzuschließen. Schnell suchte er Versteck hinter einem großen Fass.

Sein Herz schlug bis in den Hals. Sein Körper bebte. Was solle er nur tun, jetzt? Sie durften ihn auf keinen Fall erwischen. Allerdings musste er auch zum Schiff mit dem Fisch aus Übersee. Er konnte es sich nicht erlauben, seine spärliche Bezahlung zu verlieren. Der Fischhändler kannte keine Gnade. Jakub und Esmeral bogen um die Ecke und Samir entspannte sich etwas. Er war der Zweitjüngste von insgesamt sieben Kindern. Nur Anula war noch jünger als er. Die Nachzüglerin. Als er an seine kleine Schwester dachte, verwischte sein Blick und er bemerkte die Tränen, die ihm über die Wangen liefen. Er wischte sie ab. Hatte keine Zeit, musste sich zusammenreißen.

Vorsichtig spähte er um die Ecke. Sein Plan war, schnell den Fang zu dokumentieren und dann dem Fischhändler zu sagen, er fühle sich nicht wohl. Der würde zetern, ihn aber nicht hinauswerfen. Seine Familie war meistens nur einen oder zwei Tage in Janudah. Es sollte funktionieren. Es musste. Die Aktion klappte: Er dokumentierte in Windeseile den Fang, sprach mit dem Fischhändler und machte sich so unbemerkt es ging, auf in seine Behausung.

Diese bestand aus einem Holzverschlag mit einem großen Tuch als Tür. Es waren die Hütten für die Arbeiter am Hafen. Es roch schrecklich nach totem Fisch und dessen Abfällen. Dazu gebratenes Essen, das Samir würgen ließ, Bier und Fäkalien. Samir schloss die Tür seiner Behausung so gut es ging mit dem Tuch ab und betete, dass ihn seine Familie nicht finden würde.

Er lag auf seinem Strohbett und schrieb auf:

Sie dürfen mich nicht finden. Unter keinen Umständen.

Finden sie mich, bin ich verloren.

Ich werde für immer der Geflohene sein, der nicht einmal das auf die Reihe bekam.

Ich werde die schlimmsten Arbeiten verrichten müssen.

Ausgeschlossen sein.

Noch mehr als ohnehin schon.

Ich verfüge nicht über die Muskelkraft meiner Brüder, noch über das Verhandlungsgeschick von Vater.

Im Grunde bin ich nutzlos für sie.

Aber ich bin ihr Besitz und habe mich nicht so zu verhalten, wie ich es tat.

Einen Verräter hat man am besten ganz nah bei sich.

Samir betete zu allen Göttern, die er kannte. Er dürfe nicht gefunden werden. Als es Abend war, war er froh wegen der hereinbrechenden Dunkelheit. Osman vertraue er. Er wusste, er würde ihn nicht verraten. Sein Vater würde wissen, dass er bei Osman war. Aber Osman würde ihm nichts weiter erzählen. Wen Samir allerdings nicht in seine Gedanken mit einbezog, war Liana. Bei der Verabschiedung von Osmans Familie, deutete seine älteste Tochter mit ihren Augen an, was sie von einem Verräter wie ihm hielt. Sie war Traditionalistin. Für sie war Familie das Einzige, und wer sich verhielt wie Samir, ein Verräter, der seine gerechte Strafe erhalten musste.

»Ich habe deinen Sohn gesehen, Admil. Er war bei uns. Wurde gepflegt. Ganze drei Tage und Nächte lang. Mutter gab ihm zu essen und zu trinken. Vater einige Ratschläge. Ich habe von meinem Freund Janai gehört, dass er in der Hafenregion gesehen wurde«.

Admil, Samirs Vater, dankte Liana, Tochter von Osman. Er verstand seinen Freund, wusste um seine Loyalität und dass er Samir nicht verraten konnte. Schließlich wusste Osman auch, wie er Admil in Rage geraten kann. Sicher wollte er Samir vor ihm schützen. Aber Liana verstand den Wert der Familie. Admil war ihr sehr dankbar.

Sofort schickte er seine beiden größten Söhne, Jakub und Esmeral, auf die Suche nach Samir. Sie sollten sich umhören, mit den Fischern sprechen. Irgendwer musste wissen, wo sich sein jüngster Sohn befand. Und dann würde er ihm eine Lektion verpassen. Verrätern schnitt man ein Ohr für ihre Feigheit und einen Finger für ihren Verrat ab.

Es war fast Mitternacht, als sie kamen. Samir schreckte auf, als der Vorhang seiner Behausung aufgerissen wurde. Zwei Männer standen plötzlich direkt vor ihm. In Händen hielt einer der beiden eine Öllampe. Samir, aus dem Schlaf gerissen, hielt sich reflexartig schützend die Hände vors Gesicht. Es war zwecklos. Die beiden Männer erkannten ihn. Ganz sicher handelte es sich um Admils Sohn, und jetzt wäre ihnen eine stattliche Belohnung gewiss. Einer der Männer packte Samir unsanft unter dem Arm, der andere riss ihn an den Haaren hoch. Samir hatte keine Chance, sich zu wehren.

Sie schleppten ihn vor seine Behausung und wollten ihn auf ein Kamel werfen, um ihn zu Admil zu bringen und die Belohnung zu kassieren. Samir ergab sich seinem Schicksal. Wie hätte er sich aus dieser Lage auch selbst befreien können? Aus vielen der Behausungen hörte man Männer sich beschweren, was das für ein Lärm sei, mitten in der Nacht. Mancher Vorhang ging auf, doch niemand tat etwas, um Samir zu helfen. Man mischte sich nicht in die Angelegenheiten anderer ein. Wer weiß, was Samir, der Schwächling mit der Papierrolle in der Hand, ausgefressen hatte. Sie hantierten an Samir, wollten ihn gerade aufs Kamel hieven, da ging das Licht in einer der vorderen Behausungen an.

Ein Bär von einem Mann, des Fischerhändlers stärkster Matrose, baute sich vor den beiden Entführern auf. Jeder im Hafenviertel kannte Kamil. Niemand wollte auch nur im Ansatz Ärger mit ihm. »Was gedenkt ihr mit dem Buchhalter meines Dienstherren zu tun?«, fragte er mit tiefer Stimme und einer Entschlossenheit, die beide Männer schlucken ließ. Sie blickten sich an, waren jedoch von sich überzeugt, und die Belohnung von Admil war einfach zu hoch, um es nicht wenigstens zu versuchen.

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Und nun gebt den Weg frei!«, versuchte es der eine der Männer. Der andere ergänzte: »Dieser Junge hat seine gesamte Familie im Stich gelassen. Er ist ein Verräter und wird nun zu seinem Vater gebracht«. Kamil musterte die beiden. Blickte zu Samir. Er sah die Angst in seinen Augen. Samir und er hätten unterschiedlicher nicht sein können: Er, der Bär, dem nichts zu schwer und anstrengend war, Samir, der Schwächling, der die Arbeit erledigte, die alle anderen hassten. Viele der Arbeiter mochten Samir, weil er ihnen das Leben erleichterte. Und so geschah das Wunder, welches Samir brauchte. Aufgeweckt von dem Gerede der Männer, standen plötzlich sieben weitere Männer hinter Kamil. Wenn Kamil etwas tat - egal was - standen ihm seine Kumpane bei.

Die beiden Entführer blickten sich entsetzt um. Niemals hätten sie es mit all diesen Männern aufnehmen können. Jetzt ging es nicht mehr um eine Belohnung, sondern um Überleben. Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, ließen sie von Samir ab, machten kehrt, schnappten die Zügel ihres Kamels und bedeuteten mit den Händen die allgemein bekannte Geste für: Wir geben auf.

Samir war kreidebleich. Er musste sich übergeben. Die anderen Männer gingen wieder in ihre Behausungen. Kamil ging zu Samir. »Diese Männer sind wild entschlossen, Samir. Dein Vater meint es ernst. Ich kenne diese beiden: Sie erledigen Aufträge für den, der am besten zahlt. Egal, was dafür zu tun ist«. Der letzte Satz von Kamil ließ Samir schaudern. Er traute seinem Vater zu, dass, wenn er ihn nicht mehr nach Hause bekam, sein Leben nicht mehr sicher war. Aus dem Nichts hatte Samir seine beiden Optionen vor Augen: Er könnte hierbleiben und versuchen, mit Hilfe von Kamil und seinem Dienstherren, dem Fischhändler, eine Übereinkunft mit seinem Vater auszuhandeln. Dann jedoch müsste er sich vermutlich für sein halbes oder gar sein ganzes Leben dem Fischhändler verpflichten und für ewig in dieser Kloake leben.

Option zwei war die Flucht. Er hatte etwas Geld angespart und war selbst ein Mann der Wüste. Er könnte es zumindest versuchen und würde sehen, wie weit er käme. Auch wenn er damit sein Leben riskierte, war dies, die für ihn einzige Option. Er nahm nicht dies alles auf sich, um am Ende die rechte Hand des Fischhändlers zu werden und sein Dasein in Janudah zu fristen.

»Kamil…«, sagte Samir mit zitternder Stimme: »Wie kann ich dir je danken?«. »Du schuldest mir keinen Dank. Du hast viel für uns getan. Dein System spart den Männern und mir viel Arbeit. Und ich mochte es noch nie, wenn sich zwei auf einen stürzen, noch dazu, wenn er halb so gewichtig ist wie sie«. Kamil ließ den Satz nachhallen, blickte Samir an - außer einem Schrecken schien mit ihm alles in Ordnung zu sein. Kamil stand auf und machte sich auf den Weg in seine Behausung. Dann drehte er sich noch einmal um und fragte: »Was wirst du tun?«.

Samir kannte nur eine Antwort: »Ich werde dem Ruf der Wüste folgen und mein Glück herausfordern«. Auch Kamil wusste, dass es nur zwei Optionen gab. Und da er sich selbst einst anders entschieden hatte und nun dem Fischhändler sein Leben schuldete, konnte er Samir nur zu gut verstehen. Er nickte und sprach: »Gib auf dich acht«. Samir musste sich beeilen. Er hatte nicht viel Zeit. Die beiden Entführer würden längst bei seinem Vater sein und dieser sich bereits neue Gedanken machen, wie er ihn nach Hause holen konnte.

Er warf sein gesamtes Hab und Gut in einen Beutel, kratzte die letzten Essensreste, die er finden konnte, zusammen und zwei Karaffen voll Wasser. Er würde sich alles gut einteilen müssen.

Dann schwang er sich auf Anaya und ritt los in die Nacht, in der er sein Leben zum zweiten Mal geschenkt bekommen hatte.

Am Himmel hörte er ein Geräusch, das er erst nicht zuordnen konnte. 

Es war der Ruf eines Falken.

FIN


Es gibt auch eine Hörversion der Geschichte für alle, mit Whisperer Konto: